Eigentlich sollte hier nur ein kurzer Text stehen, der von einem skurrilen Zufall handelt. Davon, dass 2008 das Jahr sein wird, in dem Madonna, Prince und Michael Jackson 50 Jahre alt werden. Das Jahr damit, in dem 50 endgültig nicht mehr als „alt“ gelten können, weil diese drei für vieles stehen – für ausgemergelte Körper, selbstreferentiellen Kitsch, psychische Störungen zum Beispiel – aber noch immer nicht für das, was sich „Alter“ nennt. Alter ist etwas, das sich heute leicht verschieben lässt, wenn einem nicht der Tod oder böse Krankheiten dazwischen kommen. Die gefühlte Jugend hat in den vergangenen hundert Jahren einen beachtlichen Siegeszug hinlegen können, weil sie mit der Verdoppelung der Lebenserwartung von im Schnitt 40 Jahren um 1900 auf rund 85 heute die Zeit dazu bekam. So wie es Paul McCartney, heute 65, irgendwann vor ein paar Monaten sinngemäß in einem Interview sagte: Einen Song wie „When I’m 64“ könnte er heute so nicht mehr schreiben. Er müsste „When I’m 84“ heißen, denn schließlich sei er noch immer nicht bereit, sich mit Gartenarbeit und einer Frau zufrieden zu geben, die ihm vor dem Kamin einen Pullover strickt – und genau davon handelt schließlich das harmlose Beatles-Lied, das er 1967 geschrieben hatte. Und in Wahrheit werde das Klischee, das er darin verhandelt, sowieso bald vom Lebensstil der Generationen nach ihm ausgelöscht worden sein.
Aber das sind nur ein paar Gründe, warum hier dieser Text über den absurden Zufall stehen sollte. Es kamen noch ein paar private Gespräche zu anderen Aspekten des großen Themas „Alter“ dazu, dann Geschichten wie diese im Standard-Album vom vergangenen Wochenende – und plötzlich war in allen Gedanken keine erkennbares Generalthema mehr drinnen, sondern das reine Chaos im Kopf. Um dem zu begegnen, fing ich einfach an zu schreiben und fand dann doch kein Ende. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich einen alten Text zum Thema hervorkramte. Er ist im September 2005 im Magazin wiener erschienen. Er beinhaltet – abgesehen von ein paar Referenzen und Zahlen, die ich aktualisieren musste – eigentlich alles, was dazu zu sagen ist. Er klammert alles aus, was nicht dazu passt (also das, was das Chaos im Kopf verursacht). Und er gefiel mir beim neuerlichen Lesen gerade noch so gut, dass ich hier mit ein paar Kürzungen und Änderungen ausnahmsweise auch den Remix von etwas Altem veröffentliche. Bitteschön:

Stellen wir uns einmal vor, wir wären 200 Jahre früher geboren. Dann hätten wir ein kurzes und intensives Leben vor uns. Ein bisschen Kind sein, wenig später Arbeitsgerät bedienen, Nachwuchs zeugen und wenn man Glück hat, mit vierzig gezeichnet als Greis vegetieren – wobei letzteres angesichts abscheulicher Hygiene, diverser Kriege und schlechter Ernährung ohnehin nur Ausnahme und nicht Regel ist. Aus heutiger Sicht klingt dies nicht besonders attraktiv, aber historisch betrachtet ist es sogar schon besser als der Durchschnitt, denn 99,9 Prozent der Zeit, die der Mensch auf der Erde residiert, wurde er von ihr so derb behandelt, dass er um die 30 verstarb. Wer es darüber hinaus schaffte, war Überlebenskünstler und damit wie Methusalem ein Fall für die Legendenbildung, fürs Buch Genesis, das davon kündet wie er mit rüstigen 187 Lamech zeugte und danach noch 782 Jahre lang diverse Söhne und Töchter mehr. Eine schöne Geschichte über ewige Jugend, nur eben sehr Altes Testament.
Was heißt: Wir haben Glück gehabt. Heute (und in Österreich) geborene Buben dürfen im Schnitt mit gut 77 Lebensjahren rechnen, Mädchen gar mit 84. Ein recht erkleckliches Ergebnis in drei Jahrhunderten, das uns schon ein Stück vom Weg ins ewige Leben abgenommen hat. Seit 160 Jahren steigt unsere durchschnittliche Lebenserwartung nachweislich um drei Monate jährlich. Was dann auch heißt, dass manche Prognosen davon ausgehen, dass jedes zweite dieser Tage geborene Mädchen hundert Jahre alt werden wird, jeder zweite Bub 95.
Blöd nur, dass Demografen mit unerbittlicher Regelmäßigkeit die Gesellschaft skizzieren, die uns Dank dieser Entwicklung in ein paar Jahrzehnten erwartet. Es ist eine Gesellschaft voller alter Leute. Es wird im Jahr 2050 mehr Menschen über sechzig geben als unter dreißig. Es werden mehr Altenheime benötigt werden als Kindergärten. Es wird ein geriatrischer Super-GAU, heißt es, den keiner aufhalten kann, weil die Kinder, die es dazu bräuchte, schon längst geboren sein müssten. Der Grund für diese Panik ist ein Denkfehler. Es ist nämlich falsch, die Alten der Zukunft an den Alten von heute zu messen. Die Alten der Zukunft haben andere Biografien, weil sie andere Leben geführt haben. Sie kennen keine Kriege und Katastrophen, sie kennen Wohlstand und wie man es sich darin mit individuellem Lifestyle einrichtet.
Es war Frank Schirrmacher von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der 2005 den Bestseller „Das Methusalem-Komplott“ veröffentlichte und damit die Diskussion um die Zukunft unserer überalternden Gesellschaft erst so richtig anheizte. Er erzählte von einer Welt, die heute Alternden alles nimmt – das Selbstbewusstsein, den Arbeitsplatz, die Biografie. Von einer Welt, in der die Jugend bestimmt. Davon, dass diese Welt in Zukunft nicht mehr so existieren könne, weil die Mehrheitsverhältnisse schlicht andere seien. Davon, dass die Alten der Zukunft mit den Alten von heute nichts mehr gemeinsam haben werden, weil sie eben ganz andere Vorstellungen vom Leben haben, ganz andere Prioritäten. Und davon, dass der Grund dafür ganz einfach sei: Weil diese Alten wir sind. Dies sei der biologische Triumph unserer Generation, schreibt Schirrmacher. „Wir haben keine Länder erobert, wir haben Lebenszeit erobert.“
Einziger Nachteil an Schirrmachers Vision war allerdings genau jener Begriff, von dem sein Buch handelt: Altern. Es ist ein hässliches Wort. Altern klingt wie Eltern. Altern macht langsam. Altern tötet. Altern – bitte nein. Zum Glück hat auch ein Kollege Frank Schirrmachers über das Thema nachgedacht und daraus ein Buch geschrieben, das 2005 erschien: Claudius Seidl, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. „Schöne junge Welt“ heißt sein Werk. Und: „Warum wir nicht mehr älter werden.“ Es ist, wie schon der Titel andeutet, ein positives Buch zu einem negativ besetzten Thema. Es handelt nicht von biologischen Zwängen und wie wir sie mit neuen medizinischen Therapien austricksen können. Es handelt von uns – und wie wir einfach durch unsere Existenz gegen das Alter revoltieren.
Es reicht für diese Revolution, dass wir von unseren Eltern die Erlaubnis bekamen, unsere Jugend endlos nach hinten zu dehnen. Studieren bis 30 – kein Problem. Einen fixeren Job annehmen mit 35 – ebenso. An Kinder denken mit Anfang 40 – sicher. Es reicht, dass wir uns mit Frau, Kind und Lebensversicherung genau so wenig erwachsen fühlen wie ohne. Es reicht für unsere Revolution, dass wir immer länger leben dürfen, uns für immer weniger Kinder entscheiden und dafür viel Zeit geschenkt bekommen. Zeit, die sich mit Lifestyle und biografischen Hakenschlägen füllen lässt.
Darüber lässt sich natürlich wundervoll klagen, über die „All Age-Gesellschaft“, wie sie die Süddeutsche Zeitung einmal nannte, eine Gesellschaft ohne Alterskohorten, ohne feste Grenzen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, eine Gesellschaft gar, die sich dazu entscheidet, auf Erwachsene ganz zu verzichten, weil ewige Jugendliche einfach die besseren Konsumenten sind als Altersweise, die zwar Unterhosen kaufen, aber dann doch die Hälfte davon zurück bringen, weil sie nicht ganz passen, anstatt sie einfach wegzuschmeißen.
Das lässt sich aber auch gut finden. Zum Beispiel der amerikanische Modedesigner Michael Kors, der einmal in einem Interview mit der Los Angeles Times sagte: „Jeder ist 35.“ Wobei 35 natürlich hier ein mehr oder weniger willkürlich gewähltes Alter ist. Es könnte genauso gut 31 oder 39 sein, ist aber als Symbol am besten geeignet, weil es so schön zwischen dem 30. Geburtstag liegt, vor dem sich alle irgendwie fürchten, daher eine Riesenparty schmeißen und am nächsten Morgen bemerken, dass sich nichts geändert hat, und vor dem 40er, der immer so weit weg liegen wird, dass er eine Überraschung bleibt.
Als einer der Hauptverantworlichen für unsern Lifestyle gilt die Popmusik, die ihren 50er auch schon hinter sich ab, wenn man ihre Geburt mit Elvis definiert – und natürlich die Popkultur ganz allgemein. Doch Pop wurde eigentlich nicht erfunden, um uns jung zu halten. Er wurde erfunden, weil junge Menschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt groß wurden, plötzlich Taschengeld bekamen. Und da half Pop, es ihnen wieder aus der Tasche zu ziehen.
Dass Popkultur nun trotzdem ganze Generationen nicht mehr so altern lässt, wie es die davor taten, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass wir auch in den Jahren nach unserer biologischen Jugend nicht mehr von ihr lassen können, vom Kino, von den Schallplatten, vom schnellen Konsum, vom besseren Leben. Wir kennen den Lustgewinn einfach zu gut, den uns Popkultur seit früher Kindheit an verschaffte, als dass wir darauf verzichten können. Unsere Erinnerung hilft uns also, im Zustand ewiger Jugendlichkeit, zum Beispiel als ewig 35-Jährige dahin zu leben.
Und wenn wir über Referenzen für würdiges Altern nachdenken, also uns von Rockstars verabschieden, die vor ihrem 30. Geburtstag am eigenen Erbrochenen erstickten, landen wir schnell bei richtigen Kerlen aus dem Kino wie Robert De Niro, Al Pacino oder sonstwem. Oder bei Pop-Giganten wie David Bowie und Bryan Ferry. Bei Helden aus vielen Jahrzehnten Popkultur, die heute noch jederzeit hübsche Frauen in ihre Betten zerren könnten, und mit Viagra im Nachtkästchen dabei auch noch länger keine gröberen Ausfälle erwarten müssen.
Die dieser Tage viel beachtete 68er-Generation oder die so genannten Babyboomer sind die ersten Generationen der Geschichte, die Zeit und Muße haben darüber nachzudenken, wie es sich mit über 60, relativem Wohlstand und viel Freizeit als ewig 35-Jähriger so leben lässt. Die Lebensabschnitte vom Kind über den Jugendlichen zum Erwachsenen, ohnehin erst eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, verwischen heute in Richtung Mitte, die biografischen Kurven mit Breikost am Anfang, Gipfelsturm am Höhepunkt und Breikost am Ende verflachen zusehends zu einer gut genährten und gut aussehenden Ebene, in der sich alle irgendwie 35 fühlen, weil alle irgendwie wie 35 aussehen – die einen früher, die andern später, aber auch nie älter. „Jungsein“, schreibt Claudius Seidl, „ist heute eine Möglichkeit, die jedem offen steht, ganz egal, wie alt er ist.“
Natürlich gibt es Mahner, die fragen, wozu das alles gut sein soll. Und natürlich ist auch die Frage berechtigt, ob es wirklich sinnvoll ist, nicht alt zu werden. Nun, nach dem Alter kommt der Tod, und das genügt meist als Antwort. Sogar Frank Schirrmacher, ein des Jugendkultes gänzlich unverdächtiger Autor, kommt im „Methusalem-Komplott“ zum Schluss, dass es kein Selbstbetrug ist, sich jung zu fühlen. „Es ist eine Aussage, die schafft, wovon sie spricht“, sagt er. „Der Wille, jung zu sein, ist der Wille zum Leben.“ Natürlich finden manche es trotzdem beängstigend und furchtbar kompliziert, als ewig junge 35-Jährige zu existieren. Doch dabei ist alles ganz einfach: Wir müssen alt werden. Und weil wir nichts anderes kennen, müssen wir dabei jung bleiben.
Womit wir eigentlich ganz locker wieder bei Madonna, Prince und Michael Jackson gelandet sind.