Foto: Rüdiger Wölk, Lizenz: CC-BY-SADa sage noch einmal jemand, die sozialen Netzwerke führen uns Meerschweinchen nicht auf gute Spuren. Heute in der Früh zum Beispiel lenkte Kollege Manfred Klimek seine Facebook-Freunde mit den Worten „Die Sicht der anderen erklärt oft viel …“ zu einem Interview mit William M. Johnston auf derstandard.at.

Johnston ist ein US-amerikanischen Historiker und hat das Buch „Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs“ geschrieben. Es ist bei Böhlau erschienen und dort auch bequem im Online-Shop zu kaufen. Ich habe es bestellt, weil ich mich in den vergangenen Wochen auf ZiB21 schon mehrmals mit dem Wesen Österreichs und den damit einher gehenden Schräglagen beschäftigt habe. Siehe etwa hier, hier und hier. Und ich wollte es eigentlich erst lesen, ehe ich mich dazu äußere. Dann waren im Interview mit Johnston aber doch zu viele spannende Sätze drinnen, die gleich weitergedacht gehörten. Vor allem die im Zusammenhang mit der österreichischen Tradition im Umgang mit Immigranten, die gestern auch hier diskutiert wurde. Johnston sagt dazu:

[Die Globalisierung ruft] die Problematik der Monarchie in Erinnerung: Die Österreicher müssen von Neuem lernen, wie man mit Nichtösterreichern zusammen lebt. Die Präsenz der Immigranten verlangt die Wiederentdeckung dieses Verständnisses, dieses Vermittelns. […]

derStandard.at: Wäre eine Selbstdefinition als Einwanderungsgesellschaft schon zu kompliziert?

Johnston: Nein, überhaupt nicht. Die Multikulturalität kann man ja erklären.

derStandard.at: In den letzten Jahren wird eine Abgrenzung gegenüber „den Anderen“ – das können Zugewanderte sein oder auch muslimische ÖsterreicherInnen – besonders stark spürbar. Es scheint ein Bedürfnis nach Gegenidentitäten zu geben. Angenommen, die von Ihnen geforderte Selbstsuche wäre weiter fortgeschritten: Gäbe es dann weniger Rassismus im Land?

Johnston: Das wäre ein guter Vorschlag. Die Neigung mancher Österreicher, ein Feindbild der „anderen“ aufrecht zu erhalten, um sich selbst zu definieren, kann durch die Beschäftigung mit der eigenständigen österreichischen Definition, mit der Tradition als Vielvölkerstaat, geschwächt werden. Es wird ein langer Prozess sein. Aber jeder Schritt lohnt sich. Und mit den Jahren kann man hoffen, dass die Tendenz, Gegenfiguren zu pflegen, abnehmen wird.

Kurz gesagt bedeutet das vor allem eines: die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Gerade die ist in Österreich noch immer sehr problematisch. Das Reden über die unbequemen Aspekte der Nazivergangenheit sollte am besten einfach aufhören, um der Generation jenseits der 80 endlich ein paar Jahre ohne unbequeme Fragen zu ihren Lebenslügen zu ermöglichen, heißt es. Der Zweite Weltkrieg wird am liebsten als persönliche Prüfung gedeutet, stellvertretend etwa in der Person von Hans Dichand, wenn er in seiner Zeitung Erinnerungen an seine Zeit an der Bordflak des Transportschiffes „Leverkusen“ zum besten gibt. Die Ära vor 1918 wird als bürgerliches Idyll erinnert, das den Wien-Tourismus ankurbelt. Und als einzig allgemein gültige historische Tradition gilt die der zweiten Republik – die Erfolgsstory einer kulturell homogenen Gesellschaft (Danke an Michel Reimon für diese Formulierung), die kollektiv zu weinen beginnt, wenn ihr König der Skifahrer abdankt.

Das Österreich, das ich hier meine, besteht natürlich nicht aus den fünf oder mehr Prozent der Elite, der sich Martin Blumenau in seinem gestrigen Journal in einem anderen Zusammenhang annähert, sondern es ist der große Rest, die Krone-Republik: Tendenziell überaltert, tendenziell der Überzeugung, dass es sich bei der Europäischen Union um einen unnötigen Verein handelt, tendenziell Intellektuelle und Künstler verachtend, tendenziell xenophob. Diesen großen Rest mit seiner kulturellen Tradition als Vielvölkerstaat vertraut zu machen, ist ein schöner Wunsch. Ich mache mir bloß Sorgen, dass ich nicht mehr erleben werde, wenn er in Erfüllung geht. Schließlich werde ich ja bald 35.