Wenn ihm gar nichts mehr einfällt, bleibt dem bildungsbürgerlichen Halbwissenden immer noch die Erinnerung ans Kino. Dort lief im Jahr 1990 – in den USA war’s schon 1989 – ein Film des australischen Regisseurs Peter Weir mit dem deutschen Verleihtitel „Der Club der toten Dichter“ (im Original: „Dead Poets Society“). Es gibt viele erinnerswerte Szenen darin, doch geht es vor allem um eine: Sie zeigt den jungen Wilson aus House, der seinen Freunden von der „Dead Poets Society“ ein paar Zeilen von Henry David Thoreau vorliest, dem großen amerikanischen Romantiker und Querdenker. Auf Deutsch lauten sie wie folgt:

„Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte.
Ich wollte das Dasein auskosten.
Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen.
Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.“

Von Thoreau zu Justin Vernon sind es zwar eineinhalb Jahrhunderte, aber die Sehnsucht nach dem Echten und Wahren im Leben trieb nicht nur den Club der toten Dichter zu Sturm und Drang, sondern passt auch gut zur Rezeptionsgeschichte von Justin Vernon, 30, der unter dem Pseudonym Bon Iver soeben ein weiteres – „Bon Iver“ betiteltes – Album veröffentlicht hat.

Größtmögliche Einsamkeit und Introspektion

Darauf bedient er genau diese Sehnsucht nach Natur, Rückzug und Raum für Freudlosigkeit aller Art. Aufgenommen in größtmöglicher Einsamkeit in Wisconsin (in einer ehemaligen Tierklinik, heißt es), bestehend aus zehn Songs, die Ortsnamen tragen, Garantie für maximale Introspektion inklusive.

Es geht Bon Iver darauf in erster Linie um Sound und Stimmung. Der Text ist ihm völlig zweitrangig, in weiten Teilen bieten die Songs nur mit Kopfstimme vorgetragenen Assoziationsketten aus Wortfetzen und Nonsens. Trauriger klang Auto-Tune jedenfalls noch nie. Und klüger wurde auch schon länger nicht mehr mit unseren Emotionen und Sehnsüchten gespielt.

Was das alles bedeuten könnte, ist bei Bon Iver nebensächlich. Die Bedeutung ist hier auf eine Stimmung reduziert, die sich der Hörer getrost selbst aussuchen darf – egal ob nur halb frustriert oder ganz, Vernon lässt einem alles offen. Seine Kunst ist es, tief Empfundenes – angeblich ist ihm vor den Aufnahmen zu „Bon Iver“ seine Freundin davon gelaufen – so zu überhöhen, dass es für alle da ist.

Was ist wirklich wichtig?

Könnten wir nicht alle ein bisschen Rückzug in die Natur gebrauchen, um herauszufinden, was wirklich wichtig ist? Und wären wir nicht alle manchmal gerne ganz für uns und ein bisschen mehr Thoreau, junger Wilson oder Bon Iver?

Große Kunst, das weiß der bildungsbürgerliche Halbwissende, ist immer das, was keine großen Erklärungen braucht, sondern einen einfach packt. Das einen plötzlich an lange vergessene Filme denken lässt. Das einen beschäftigt, obwohl man eigentlich Brotberufen nachgehen sollte. Und das einen dann am Schluss noch einmal richtig überrascht.

Auf „Beth/Rest“, dem letzten Song auf diesem Album, tut Justin Vernon einfach so, als wäre er Bruce Hornsby. Ja, Bruce Hornsby, das Grauen der größten Hits der 80er-Jahre. Und ja, es tut nicht weh. Und kann natürlich auch sein, dass einen Justin Vernons mit „Bon Iver“ nur verarscht hat. Aber darüber reden wir dann, wenn wir aus den Wäldern zurück sind. Angenehmes Wochenende allseits.

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