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Es sollte ja eigentlich nicht passieren: Man ist schließlich kein Niemand, kein Depp, kein Versager. Im Gegenteil, man hat schon dies und das hingekriegt, beruflich wie privat. Man hat ein paar große Probleme souverän gelöst. Man sieht sich in der Früh in den Spiegel und ist nicht unangenehm überrascht. Man trägt zwar noch immer den einen oder anderen Komplex mit sich herum, aber wer tut das nicht? Eben. Man ist wer, und der, der man ist, ist eigentlich recht okay. Und an besonders guten Tagen, wenn man sich weiter hinaus lehnt, dann ist man sogar überdurchschnittlich okay.
Nur gibt es auch schlechtere Tage. An denen sollte man gewisse Dinge vermeiden. Zum Beispiel sollte man nicht in der Innenstadt an tollen Geschäften vorbei kommen und den spontanen Entschluss fassen, dass eine neue Hose ins Haus muss. Denn dann kann passieren, dass das tolle Geschäft ein Flagship Store ist – ein vom funky Innenarchitektenteam auf funky gebürstetes Geschäftslokal, in dem vereinzelt funky Kleidung und Artverwandtes zum Verkauf untergebracht sind. Es sind auch funky Hosen darunter, und das ist gut. Aber es sind auch funky Arschlöcher darunter – und das ist schlecht.
Jaja, nicht gleich losschimpfen, es ist natürlich schon richtig: Die Arschlöcher haben einem nichts getan. Der DJ rechts vom Eingang hat einem nichts getan, denn was kann er denn dafür, das er so scharf aussieht, dass man überlegt schwul zu werden? Und der Verkäufer, der hinter der Budel tanzt, kann auch nichts dafür, dass er noch schärfer aussieht als der DJ, und so wie er tanzt, hätte man beim DJ wohl sowieso keine Chancen, aber jetzt wollen wir mal nicht abschweifen …
Es ist diese besondere Spezies des Flagship Store-Verkäufers, die man an solch schlechteren Tagen meiden sollte. Der Verkäufer in einem Flagship Store – gut möglich, dass er nebenbei abends bei einem Friseur mit originellem Namen künstlerisch wertvolle Dienste am Haupthaar um hundert Euro aufwärts verrichtet – ist nicht Dienstleister im herkömmlichen Sinn. Er ist eigentlich gar kein Dienstleister, sondern ein Star, der im Glanze eines Geschäftes dient, das ihn zu einem Dienstleister höherer Ordnung adelt. Er muss nicht verkaufen, er muss sein. Er muss nicht denken, er muss aussehen. Er muss nicht arbeiten, er muss leben.
Er führt – als wäre er quasi vom Innenarchitektenteam als Requisite bestellt – ein Leben so funky wie die Kleidung, die er Kraft seines Jobs repräsentiert. Ach was: Er lebt die Kleidung, die er verkauft. Es fehlt ihm jede Form des Selbstzweifels. Und Komplexe kennt er gar nicht, denn bei ihm im Geschäft hängen überall Spiegel an der Wand.
All das, woran man mit den Jahren zu glauben begonnen hat, die Bücher, die Zeitungen, die Bildung, die Erkenntnisse, die Rückschläge, die Irrtümer – sie existieren für ihn nicht. Und das, um zum Anfang zurück zu kommen, tut weh. Vor allem an den schlechteren Tagen. Denn da will man eine Hose kaufen, findet ausnahmsweise sogar 200 Euro für Jeans nicht sittenwidrig, will da rein gehen, geht da rein – und fühlt sich schlecht.
Zu schlecht für die Musik, die einem entgegen brüllt. Zu schlecht, um die Umkleidekabine als solche zu erkennen, weil das gleißende Weiß des Geschäfts die Konturen des Mauerwerks verschwimmen lässt. Zu schlecht für die Jeans, für die man zu fett ist, weil 33/34 in funky Läden offensichtlich anders gemessen wird. Zu schlecht für den Star des Geschäfts, der eindeutig blöd grinst, wenn man grußlos wieder hinaus geht, um sich draußen einzureden, damit hätte man es ihm aber ordentlich gezeigt.
Und zu schlecht, um gleich zu erkennen, was gerade passiert: Man hat manchmal zumindest recht funky Komplexe.