Tim O’Reilly: Wo ist die Zukunft des Netzes? Irgendwo da drüben.
Früher einmal war das Netz eine Plattform, mit der wir unsere Leben und Geschäfte organisieren konnten. Jetzt entwickelt es sich zur wahren Welt, in der wir leben. Notizen zu einem Aufsatz von Tim O’Reilly.

Das Web 2.0, mittlerweile eine Binsenweisheit, schöpft seine Kraft aus der kollektiven Intelligenz der Nutzer, aus dem Schwarm. Das war bei Wikipedia so, das war bei eBay so, bei Youtube, bei Facebook und zuletzt natürlich bei twitter, als die iranische Protestbewegung darin ihr Medium fand.
Das Netz – oder genauer: dessen Nutzung – hat sich in den vergangenen zehn Jahren grundlegend verändert. Es war irgendwann nach dem Platzen der Dotcom-Blase, und es war eine organische Entwicklung. Die führte dazu, dass die Grenzen zwischen den Produzenten und den Konsumenten von Informationen aufgehoben wurden. Plötzlich gab es Web-Applikationen, mit deren Hilfe auch technisch wenig versierte Nutzer Inhalte selbst verteilen konnten – und mit deren Hilfe sie sich auch noch untereinander vernetzen konnten.
Ein wichtiger Schritt in dieser Entwicklung war Google. Die Algorithmen der Suchmaschen verknüpften die Daten im Web erstmals mit einer Grammatik, die sich die kollektive Intelligenz zunutze machte. Zusammengefasst: Jeder geklickte Link ist bei Google auch eine abgegebene Stimme in einer endlos dauernden Wahl, die in Echtzeit abläuft. Damit wandern Seiten bei den Suchergebnissen entweder nach oben oder nach unten. Google stellt die Technik, die User sorgen ganz alleine dafür, dass die gefundenen Informationen relevant bleiben.

So weit, so Binsenweisheit. Nun haben Tim O’Reilly und John Battelle in einem Aufsatz zum Web 2.0 Summit im Oktober in San Franciso darüber nachgedacht, wohin diese Entwicklung führen könnte. „Web Squared: Web 2.0 Five Years On“ heißt der Text, und wie es sich bei Visionären wie O’Reilly gehört, lässt er einen manchmal den Atem stocken. Und leider ist er so brillant argumentiert, dass man ihm schwer etwas entgegen setzen kann.

Hier ein paar der wichtigsten Bausteine zum näheren Verständnis:

O’Reilly und Battelle sagen: Derzeit ist das Netz noch immer ein Baby und verhält sich auch so. Ein Baby nimmt nach seiner Geburt alles wahr, muss aber erst lernen, seine Sinneseindrücke einzuordnen und zu verknüpfen. Die große Frage, die sich daher stellt, lautet: Kann das Netz erwachsen werden? Also mit den Jahren lernen und klüger und erfahrener werden?

Die beiden sagen: ja. Weil wir, das Kollektiv der Nutzer, seine Eltern sind.

Unsere mobilen Geräte sind heute die Verlängerung unserer Ohren und Augen. Mit deren Daten füttern wir zahllose Applikationen. Dort werden sie mit anderen Daten verknüpft. In Echtzeit.

Our cameras, our microphones, are becoming the eyes and ears of the Web, our motion sensors, proximity sensors its proprioception, GPS its sense of location. Indeed, the baby is growing up. We are meeting the Internet, and it is us.

Das, so O’Reilly und Battelle, lässt die Datenmassen exponentiell steigen. Er nennt das „Web Squared“, das Netz zum Quadrat.

The Web is no longer a collection of static pages of HTML that describe something in the world. Increasingly, the Web is the world – everything and everyone in the world casts an „information shadow,“ an aura of data which, when captured and processed intelligently, offers extraordinary opportunity and mind bending implications. Web Squared is our way of exploring this phenomenon and giving it a name.

Und weiter:

Real-time search encourages real-time response. Retweeted „information cascades“ spread breaking news across Twitter in moments, making it the earliest source for many people to learn about what’s just happened. And again, this is just the beginning. With services like Twitter and Facebook’s status updates, a new data source has been added to the Web – realtime indications of what is on our collective mind.
[…]
When we started the Web 2.0 events, we stated that „the Web is a platform.“ Since then, thousands of businesses and millions of lives have been changed by the products and services built on that platform.
But 2009 marks a pivot point in the history of the Web. It’s time to leverage the true power of the platform we’ve built. The Web is no longer an industry unto itself – the Web is now the world.
And the world needs our help.

Das klingt natürlich alles wahnsinnig vielversprechend und revolutionär. Und vieles davon wird wohl auch eintreten und uns Dienste bescheren, die wir uns heute noch nicht einmal ausmalen können (Wer hätte etwa vor ein paar Jahren gedacht, dass tatsächlich Interesse an einem Videodienst mit großteils unterirdischer Bild- und Tonqualiät besteht? Eben.)
Nur fällt mir in diesem Zusammenhang dieser Text von Michel Reimon ein, der unter anderem zu folgendem Schluss kommt. Der Clou des Netzes der Gegenwart – und des Erfolges von Applikationen wie Facebook und twitter – ist ihre deppensichere Bedienung. Und deppensichere Bedienung gibt’s nur, wenn etwas zentral verwaltet und gewartet wird. Also nicht von der Cloud, sondern von einem Unternehmen oder einer anderen Organisation, die immer auch Interessen verfolgt, auf die der User keinen Einfluss hat.
Und kollektive Intelligenz hin und her – die Vorstellung, dass sie jemand per Knopfdruck abschalten kann, stört mich gewaltig.