„Was ist eigentlich mit den Sozis los?“, fragt Robert Misik im heute erschienenen Falter. „Ist die SPÖ doch nicht die bessere Partei für schlechtere Zeiten?“, fragen in der selben Ausgabe Armin Thurnher und Stefan Apfl den amtierenden sozialdemokratischen Wiener Bürgermeister Michael Häupl.
Die Sozialdemokratie steckt dieser Tage tatsächlich so in der Krise, dass voller Sorge nach ihrem Befinden gefragt werden muss. Gerade einmal zehn Jahre ist es her, als ganze elf Regierungschefs der damals 15 EU-Mitgliedsstaaten Sozialdemokraten waren. Seither hat sich viel verändert. Die Roten verlieren in Österreich und anderswo eine Wahl nach der anderen. Die Roten stehen vor dem Problem, dass die Neue Mitte, die sie damals ausgerufen haben, mit ihnen gerade während Krisenzeiten nichts zu tun haben will. Die Roten stehen vor dem Problem, dass sie wieder nach links rücken müssten, um ihr Profil zu schärfen. Die Roten erkennen auf dem Weg zurück, dass viele ehemals klassische sozialdemokratische Standpunkte längst von der bürgerlichen Konkurrenz besetzt sind. Und die Roten stehen damit weiterhin ratlos vor der Misere, die sie selbst angerichtet haben.
Ein Begriff wie Solidarität entsprach einfach nicht dem Zeitgeist, als Tony Blair oder Gerhard Schröder eine neue Sozialdemokratie erfinden wollten. Vor allem die institutionalisierte Solidarität, die sich etwa in einer allgemein verpflichtenden Krankenversicherung ausdrückt, war auch vielen Sozialdemokraten nicht mehr en vogue. Der Sozialsaat galt als zu aufgebläht, das Individuum als zu bequem für neue Zeiten. Also musste es endlich in die wohlverdiente Eigenverantwortung entlassen werden.
Blöd nur, dass der Rückzug des Staats in Kombination mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung vor allem den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert – und gleichzeitig die Chancen des Individuums mindert, diese Distanz zu überwinden. Diese Erkenntnis ist nicht von mir, sondern vom britischen Sozialforscher Richard Wilkinson, der sie vor ein paar Tagen in einem Interview mit der „Zeit“ näher erläutert hat.
Der spannendste Punkt darin ist die Diskussion um die Verantwortlichkeiten für die so gewachsenen Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft. Wilkinson erklärt, dass es in Europa und den USA noch immer Common Sense ist, den rasanten technischen Wandel und die Globalisierung dafür verantwortlich zu machen – eine Lesart des Problems, die es der Politik recht leicht gemacht hat.
Sie erlaubt Liberalisierungen und den Rückzug des Staates, um damit das Individuum wettbewerbsfähiger zu machen. So plausibel dies in der Theorie klingt, so heikel ist es im Detail. Jede Liberalisierung ist ein Rückzug des Staates. Wo sich der Staat zurückzieht, schürt er Ungleichheiten. Und nicht nur das: Er schmälert damit auch die Chancen auf die geforderte Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen, denn wer auf der falschen Seite aufwächst, kann sich seinen Traum von der höheren Bildung getrost in die Haare schmieren.
Was ist also mit den Sozis los? Wo sie doch einmal jene Partei waren, die soziale Gerechtigkeit im Programm hatte?
Solidarität steht zwar, wie Misik im Falter schreibt, noch immer ganz oben auf der Wunschliste des Wahlvolks. Bloß glaubt das längst nicht mehr, dass die Sozialdemokratie tatsächlich viel dazu beizutragen hat. Ich fürchte: Da hat Misik wohl recht. Und das Volk auch.