Kanye West hält sich für ein Genie. Die Musikkritik hält sein neues Album für einen Geniestreich. Eine zwingende Kombination.

Ich hatte in den vergangenen Jahren ja oft meine Schwierigkeiten mit dem HipHop, vor allem als er in meiner Wahrnehmung flächendeckend von selbsternannten Gangstern übernommen wurde. Sicher, auch da waren spannende Sachen dabei, doch irgendwann wurde das Konzept von guns und bitches doch einen Tick zu abgeschmackt.

Daran konnte auch Eminem wenig ändern, der dem Genre für ein paar Jahre nicht nur kommerzielle Höhenflüge bescherte, sondern auch künstlerische. Dann – zumindest meiner subjektiven und selektiven Wahrnehmung nach – war’s vorbei. Die Grenzen verwischten zusehends, R&B wurde zur neuen Starmaschine, und am Ende blieben nur mehr die Rihannas der Saison und jene Gangster übrig, die die Sängerin für ihre Refrains engagiert hatten.

Und die Ironie der Geschichte will es obendrein, dass dieser Tage trotzdem wieder Eminem (auf seinem aktuellen Album singt Rihanna) der erfolgreichste Rapper ist. Gut drei Millionen Einheiten hat er von „Recovery“ abgesetzt. In Zeiten, in denen angeblich kein Mensch mehr Musik kauft, ist das eine ganze Menge. Und in einem Genre, das mit dem Mixtape als Basis aller Arbeit das Kopieren von Musik zum Stilmittel erhoben hat, sowieso.

Ich will hier allerdings nicht die Frage verhandeln, ob der HipHop tot ist, denn darüber habe ich mich schon einmal verloren. Ich will hier in Wahrheit über Kanye West schreiben. Kanye West, geboren 1977 in Atlanta, Georgia, aufgewachsen in Chicago, Illinois, trägt rote Anzüge, hält sich für den Größten, wirkt dabei durchgehend unsympathisch und hat es immerhin schon geschafft, von Barack Obama „Jackass“ genannt zu werden, sinngemäß am besten als „Vollidiot“ zu übersetzen.

Nun könnte man einwenden, dass es sich hier bloß um Mode und standesgemäßes Verhalten handelt, denn West ist schließlich ein modebewusster Rapper. Doch hier liegen die Dinge ein bisschen anders, denn Kanye West hält sich nicht in der Lendengegend für den Größten, sondern zwischen den Schultern. Er hält sich für ein Genie, für einen brillanten Denker und für einen musikalischen Innovator wie nur alle paar Jahre einer daher kommt.

Das lässt sein neues Album „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ auch fast schon ärgerlich wichtig erscheinen. Innovation auf einem Level oberhalb der Wahrnehmungsgrenze und mit dem Zeug genug Breitenwirkung zu erreichen, um damit stilbildend zu wirken, ist in der zerfransten Pop-Landschaft dieser Tage schwer zu kriegen. Und wenn es einer wenigstens wagt, diese Innovation für sich zu beanspruchen, ist das schon Aufregung genug. Und tatsächlich: Mit „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ könnte Kanye West diese Innovation tatsächlich gelungen sein.

Wobei hier gilt: HipHop ist hier nicht einmal mehr ein ästhetisches Referenzsystem, es ist bloß die Schublade, die man öffnet, wenn man von Kanye West sprechen will. West geht hier den letzten Schritt zum größenwahnsinnigen Gesamtkunstwerk, zum Über-Album, das alles zu Ende bringt. Einerseits steckt es voller unzähliger Referenzen, andererseits frönt es betörend schönem Minimalismus.

So wie etwa auf „Runaway“, dem oben bereits verlinkten Song. Es beginnt mit simplem Klaviergeklimper, das nicht einmal den Namen Melodie verdient. Darüber legt sich dann ein rollender Beat, und in Wahrheit hat West damit den Song schon fertig. Weniger braucht es nicht, um eigentlich tumbe Texte von Schuld, Sühne und Politikerschelte mit Bedeutung aufzuladen. Weniger geht nicht, um maximale Wirkung zu erzielen

Und maximale Wirkung ist der eigentliche rote Faden, der sich durch dieses Werk zieht, das nur deshalb keine Höhepunkte hat, weil es in seiner Gesamtheit als Höhepunkt konzipiert ist. Zumindest die angloamerikanische Musikkritik ist von „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ in seltener Einigkeit hingerissen. Niemand stößt sich an Pathos und schiefen Metaphern. Niemand knöpft sich die lächerliche Egozentrik Kanye Wests vor. Alle scheinen nur darauf gewartet zu haben, dass ihnen irgendjemand doch noch das ins Heute rettet, was früher das Leben mit Pop so einfach gemacht hat: einen größten gemeinsamen Nenner, ein Stück Musik, das so gut gemacht ist, dass es niemand schlecht finden kann. Ein Stück Pop von richtiger Relevanz.

Ob Kanye West diese Heilserwartungen einlösen kann, wird sich weisen. Ob er tatsächlich ein Meisterwerk geschaffen hat ebenso. Fest steht nur, dass er sich die allergrößte Mühe gegeben hat. Und dass man das „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ durchgehend anhört. Es sollen Größenwahnsinnige schon Schlimmeres verbrochen haben. Obwohl, wer sich diese 35 Minuten Video zum Thema ansieht, könnte schon den Eindruck kriegen, dass der Herr ein Problem hat. Aber auch in diesem Zusammenhang soll im Pop schon Schlimmeres passiert sein.