Mit WikiLeaks gelangt die Forderung nach Transparenz in die Mitte der Gesellschaft. Für viele aus der Netz-Community kommt das einem Verrat ihrer Ideale gleich. Sie werden damit leben müssen.

Hält WikiLeaks die Aufregung um seine glamouröse Führerfigur Julian Assange aus? Oder ist WikiLeaks schon längst tot? Und ist die Idee, dem Dienst den Friedensnobelpreis zu verleihen, nicht doch etwas überzogen? Viele Fragen, von denen ich nur die letzte klar beantworten kann: Ja, der Friedensnobelpreis ist überzogen. So wie es im Vorjahr überzogen war, das Internet für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Und so wie es überzogen gewesen wäre, den Buchdruck nachträglich für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.

Nun aber zu den anderen Fragen, deren Antworten die Netz-Community in der digitalen Causa WikiLeaks am liebsten selbst gibt, weil sie sich von der analogen Welt missverstanden fühlt. Oder im Sinne der Netz-Community formuliert: Weil sie der analogen Welt vorwirft, die Welt nicht so durch und durch digital zu sehen, wie sie mit ihrem Augen betrachtet aussieht. Das führt oft zu Verwerfungen in der Diskussion.

Dazu nur eine kleine Geschichte aus Österreich. Sie erzählt von der in Wien ansäßigen und im ganzen Land erscheinenden Tageszeitung „Kurier“. Der „Kurier“ gilt nicht als das innovativste Blatt des Landes. Er pendelt unschlüssig zwischen Boulevard und Qualität. Er weiß nicht recht, was er sein will, sehr lange schon. Doch der „Kurier“ hat eine Handvoll sehr gute Aufdecker-Journalisten. Und der „Kurier“ hatte ausnahmsweise vor allen anderen eine gute Idee.

Wer die Adresse austroleaks.org ansurft, wird seit einer Woche auf eine Subdomain des „Kurier“ umgeleitet. Dort fordert eine mit gängigen Verschlüsselungstechnologien gesicherte Seite zum Upload brisanter Informationen auf, die dann von den oben erwähnten investigativen Reportern geprüft wird. Eine feine Sache, vor allem in Österreich, der Heimat des „superkorrekten“ und „supersauberen“ Ex-Finanzminsters Karl-Heinz Grasser.

Eine feine Sache? Ach was. Selbstverständlich stand die Netzgemeinde, die in Österreich ihre Deutungshoheit über Medien, Internet und überhaupt alles gerne im Nischendienst Twitter verhandelt, diesem Projekt sehr skeptisch gegenüber. Eine Tageszeitung nutzt den Wikileaks-Hype für redaktionelles Marketing? Der „Kurier“ obendrein? Ja darf denn sein, dass der vermeintlich Falsche ausnahmsweise das Richtige tut?

Schon wieder viele Fragen. Und wie die eingangs formulierten führen sie eigentlich am Thema vorbei.

Man wird damit leben müssen, dass auch sagenumwobene Dienste wie WikiLeaks im Mainstream ankommen. Man wird damit leben müssen, dass im Mainstream der Gesellschaft möglicherweise Ideale verraten werden – wobei ich etwa in der Geschichte von der enttäuschten Verehrung Daniel Domscheit-Bergs für Julian Assange beim besten Willen keine besonderen Ideale erkennen kann, die verraten worden wären. Freundschaft vielleicht, aber die ist ebenso wenig eine neue Erfindung wie der Umstand, dass Prominenz sie kaputt machen kann. Man wird daher auch damit leben müssen, dass sich die Welt nicht immer nur in die Guten und die Bösen teilen lässt.

Abgesehen davon ist es schlicht großartig, wenn die Kernforderung hinter WikiLeaks – die maximale Transparenz – in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses gelangt. Dort gehört sie schließlich hin, dort gehört sie diskutiert – und dort gehört sie auch hinterfragt, von so vielen Menschen wie möglich. Schließlich ist Transparenz auch anstrengend, wie wir mit unseren Facebook- und Sonstwas-Accounts täglich lernen. Und mit all den dazu gehörigen Problemen, dem Anspruch auf Schutz des Privaten, den Mühen der Ebene, wenn mehr Leute bei Entscheidungen zuschauen, wird klar, wie wenig wir noch darauf vorbereitet sind.

Es ist daher in Wahrheit egal, ob WikiLeaks stirbt. Denn die neue Kulturtechnik namens Transparenz, für die es steht, wird so oder so bleiben.

Dieser Text erscheint auch bei unserem Kooperationspartner The European.

Foto: Carolina Georgatou, Lizenz: CC BY-ND 2.0