Der Mensch, so scheint es, ist nicht für die Zivilisation gemacht. Die Zivilisation macht unmäßig. Sie macht fett. Sie macht Rückenschmerzen. Sie macht alt. Und sie ruiniert nebenbei unseren Planeten.
Nun bin ich der letzte, der gerne auf die Zivilisation verzichten möchte. Ich möchte nicht einmal mehr auf dem Land leben, auch wenn dem Landleben gemeinhin ein entschleunigender und heilender Einfluss auf alle Stadtgeschädigten nachgesagt wird – also auf jene, die von den Auswüchsen der Zivilisation als besonders geschädigt gelten.
Von dieser Form des Idylls hatte ich in meiner Kindheit und Jugend genug. Den Rest meines Lebens bevorzuge ich in Angst und Stress zu verbringen – so wie mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.
Wer in der Stadt lebt, hat mehr Stress
Das Leben in einer dicht bevölkerten Umgebung (vulgo Stadt), so steht es in einer dieser Tage in der Zeitschrift „Nature“ publizierten Studie vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, erhöht nämlich das Risiko für Angstzustände und Depressionen. Mögliche Ursache dafür, folgern die Forscher, könnte der Stress in der Enge des urbanen Raums sein. Warum? Weil die Gehirnaktivitäten bei der funktionellen Magnetresonanztomografie diesen Schluss nahe legen: Je größer der Herkunftsort des Probanden, desto aktiver war seine Amygdala während der Beobachtung. Und je länger er in einer Stadt gelebt hatte, desto aktiver war auch sein cingulärer Cortex. Amygdala und cingulärer Cortex sind für Angst, Stress und depressive Phasen in unserem Leben zuständig – und wer in der Stadt lebt, beschäftigt diese Hirnregionen besonders ausgiebig.
Diese These – hier noch einmal ausführlicher in Wired nacherzählt – klingt sehr plausibel, darf aber nicht als Vorwand verstanden werden, sich das Landleben schön zu reden. Das wurde samt der Zersiedelung ganzer Landstriche zu Suburbia ohne Gesicht, Infrastruktur und Chance auf Abkehr von der Motorisierung lange genug als Ideal hoch gehalten.
Jetzt gilt es, aus Studien wie der obigen eine Empfehlung dafür abzuleiten, dass die Rahmenbedingungen für unser Leben in den Städten dringend unseren Bedürfnissen angepasst gehören. Mit menschenfreundlicher Architektur und rigiden Verkehrskonzepten, die endlich den motorisierten Individualverkehr beschränken anstatt ihn zu fördern oder zu verstecken.
Autos raus – alles gut
Vor allem die Übermacht des Autos ist es doch, die einen in der Stadt unter Stress setzt. Autos engen ein wie wenig anderes und drängen den Menschen im öffentlichen Raum Straße an deren Ränder. Autos haben in einer menschenfreundlichen Stadt der Zukunft schlicht nichts verloren. Und so wichtig sie für den Fortschritt unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert waren, so sehr entwickeln sie sich im 21. Jahrhundert zur Geißel unserer Zivilisation.
Vorbild wie ich bin, verbringe ich diesen Samstagvormittag daher auch in der Eisenbahn. Ich verlasse die Stadt und fahre aufs Land. Der Wetterbericht ist nicht gut. Und wenn ich an die Nebelschwaden denke, die am Ende der Reise vielleicht im Tal hängen, verspüre ich Stress, weil ich nicht selbstbestimmt wieder weg komme, sondern jemanden brauche, der mich zum nächsten Bahnhof bringt.
Aber dieser Stress, so weiß ich aus langer Erfahrung, hat nicht mit meinem Leben in der Stadt zu tun, sondern mit der Sehnsucht, die mich befällt, sobald ich sie verlasse. Der Stadtmensch, so scheint es, ist nicht für die Zivilisation am Land gemacht.
Dieser Artikel erscheint auch im Debattenportal The European.
Foto: James Cridland, CC BY 2.0