Natürlich, die Nachrichtenwert-Theorie erklärt vieles. Sie geht auf Walter Lippmans Arbeit aus dem Jahr 1922 zurück, das habe ich jetzt gegoogelt. Sie wurde später immer wieder modifiziert, zum Beispiel in den 70er-Jahren von Winfried Schulz, daran habe ich mich jetzt erinnert, weil ich im ersten Semester an der Uni davon gehört habe.
Der Nachrichtenwert entscheidet, wie Nachrichten in journalistischen Prozessen ausgewählt werden. Trinkt ein Prominenter in der Nachbarschaft ein Bier zu viel und pöbelt auf der Straße, ist das eine Nachricht wert. Fällt in China ein Sack Reis um, ist es das nicht. So weit, so ungenau nacherzählt.
Die Nachrichtenwert-Theorie erklärt also den Umstand, dass immer wenige – vermeintlich besonders wichtige – Nachrichten den News-Stream dominieren, weshalb andere – ebenso wichtige – Nachrichten darin untergehen. Mit Chris Anderson gedacht, einem mindestens ebenso klugen Kerl wie Lippman oder Schulz, verschwinden sie im Long Tail der Aufmerksamkeiten. Dort ist kein Angebot klein genug, um nicht doch auf Nachfrage zu stoßen, und irgendjemand interessiert sich immer auch für Reissäcke.
Die Reissäcke brauchen mehr Nachrichtenwert
Dieser Text handelt nicht nur sprichwörtlich von Reissäcken, sondern von echten. Er soll die Reissäcke aus dem Long Tail in die Hitliste der nachrichtenwertigen Ereignisse holen. Er soll die seit Tagen dominierenden Themen Anders Breivik und Amy Winehouse einmal kurz vom Tisch wischen. Das ganze Brimborium dazu in meinem Twitter-Stream, in meinem Feedreader, auf Facebook, auf Google+ (ja, ich bin mittlerweile dabei und ich brauche es eigentlich nicht) – alles muss jetzt kurz weg.
Die ganz große Katastrophe findet schon seit langem anderswo statt: am Horn von Afrika. Wegen der größten Dürre seit 60 Jahren sind inzwischen mindestens zwölf Millionen Afrikaner in Not, knapp vier Millionen davon akut vom Hungertod bedroht. Besonders Somalia ist vom jahrelangen Bürgerkrieg zerrüttet, Infrastruktur gibt es nicht mehr. Die Regierung hat keine Kontrolle über weite Teile des Landes. Auch die Hauptstadt Mogadischu ist teilweise in der Hand der islamistischen al-Shabaab-Milizen, die die ohnehin schon schwierigen Hilsfmissionen blockieren, weil es, so ihre Diktion, besser sei zu verhungern, als Hilfe vom Westen anzunehmen.
Somalia geht uns alle an
Was derzeit in Somalia passiert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so wie jede Hungersnot. Und vor allem geht es uns alle an. Egal, wie betroffen wir von Anders Breiviks Taten oder Amy Winehouses Tod sind. Egal, wie nahe uns die eigenen Probleme und wie wenig nachrichtenwertig uns die Fotos von verhungernden Kindern sind, weil sie sich nach all den Jahren schon abgenutzt haben. Es fehlt trotzdem an allen Ecken und Enden. Jeder Euro, der einen Reissack mehr finanziert, rettet Leben. Gehen Sie also spenden, und spenden Sie, was Sie geben können.
Und ja, am Beispiel der Milizen in Somalia kann man sehen, dass Islamismus tatsächlich ein Problem für unsere Welt ist. Mit dem Islam an sich hat das trotzdem nichts zu tun. Und schon ist er wieder da, der Bestseller-Thema in meinem Newsstreams.
Dieser Artikel erscheint auch auf The European.
Foto: UNICEF, Lizenz: CC BY-SA 2.0