Von hinten: der Bulle der Wall Street. Foto: Abir Anwar, Lizenz: CC BY 2.0

Heute braucht es Ökonomen, um die Welt zu erklären. Ein guter Satz, oder? Er ist nicht von mir. Ich habe ihn vor kurzem wieder einmal gehört, gelesen, was weiß ich. Er klingt logisch, waren doch die 90er-Jahre und die kurzen Nullerjahre die Jahrzehnte der Politikwissenschaftler. Sie versuchten die neue Weltordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu erklären. Sie erzählten vom Kampf der Kulturen und dessen Bestätigung durch Nine Eleven. Sie riefen das Ende der Geschichte aus. Ganz schwindlig konnte einem werden vor lauter klugen Gedanken, da musste einfach was anderes kommen.

Vor allem, wenn die Weltpolitik von der Weltwirtschaft plötzlich von der Überholspur auf den Pannenstreifen gedrängt wird. Wirtschaftskrise. Banken im Arsch. Steuergeld im Arsch. Nationalstaaten im Arsch. Bürger im Arsch.

Zugegeben, das ließe sich auch feiner formulieren, aber das fällt vielen Menschen immer schwerer. „Billions for bankers, cutbacks for workers. Hell no!“, steht auf den Transparenten der #OccupyWallStreet-Demonstranten in New York. „Wir sind nicht die Rotzbuben der Arbeitgeber“, sagt der voest-Betriebsratvorsitzende Hans-Karl Schaller in Linz. Ja, tatsächlich: Auch im Allessuperkeinekriseparadies Österreich wagt sich nach 25 Jahren die Gewerkschaft der Metallarbeiter an einen Vollstreik, weil sie sich bei den Tarifverhandlungen über den Tisch gezogen fühlt.

Protest, powered by Zukunftsangst

Die beiden Parolen haben zwar ursächlich nichts miteinander zu tun, aber trotzdem eine Gemeinsamkeit: Sie sind Zeichen eines Protests, der auf Zukunftsangst basiert. Und diese Zukunftsangst ist das Resultat einer Ökonomie, die weder von der Politik in Schach gehalten werden kann, noch von sich selbst.

Dass etwa die Banken und der Finanzsektor gerettet wurden, ist nur ein weiterer Sieg neoliberalen Ökonomieverständnisses. Andere Branchen und der öffentliche Dienst werden dadurch zu Einsparungen gezwungen, der Finanzsektor wird so in der Politik eine wichtigere Rolle spielen als je zuvor.

Gerade in der Frage der Bankenrettung waren sehr viele Ökonomen um Rat gefragt worden. Und weil Ökonomen meist auch Ideologen sind, waren ihre Einschätzungen nicht wissenschaftlicher Natur, sondern wohlfeile Impulse zur Bestätigung diverser Ideologien. Ob mehr Staatsausgaben oder rigorose Sparprogramme – die Ökonomie hat für jeden etwas dabei.

Zu viele Ideologen, zu wenig Ideen

Und je länger man darüber nachdenkt, desto skeptischer stimmt einen der zum Beginn dieses Textes formulierte Satz. Sollen wir uns die Welt tatsächlich von Ideologen erklären lassen? Von Leuten, die sich bereitwillig vor den Karren jeder erdenklichen Weltanschauung spannen lassen? Die Befindlichkeiten und Überzeugungen vor ihre Wissenschaft stellen?

Zugegeben, das ließe sich auch weniger suggestiv fragen, aber das fällt einem immer schwerer. Gerade in Zeiten, in denen einer Bürgerbewegung wie #OccupyWallStreet vorgehalten wird, sie habe ja gar keine Ideologie.

Da erscheinen die Ansätze des in anderen Zusammenhängen schon erwähnten Politikwissenschaftlers und Soziologen Colin Crouch einmal mehr viel praktikabler. Der Autor hat seinem Standardwerk „Postdemokratie“ eine Fortsetzung hinterher geschickt, die den Titel „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ trägt. Darin deckt er nicht nur die zahlreichen individuellen Lebenslügen auf, die es in den vergangenen Jahrzehnten brauchte, um die Freiheit von Märkten zur Grundlage der Freiheit des Menschen zu verklären. Er spricht auch der klassischen Ökonomie die Fähigkeit ab, die Probleme der Zeit zu erkennen.

Es braucht, um Crouch zu paraphrasieren, vielmehr das Eingreifen einer vierten Kraft – „einer kampflustigen, vielstimmigen Zivilgesellschaft, die die Nutznießer des neoliberalen Arrangements mit ihren Forderungen unter Druck setzt und ihre Verfehlungen anprangert.“ Oder wie er es auch formuliert: „Wenn wir die Konzerne schon nicht stoppen können, sollten wir sie wenigstens vor uns hertreiben.“ Crouch weiß wohl, wovon er spricht. Er unterrichtet an der Warwick Business School in Großbritannien, einer renommierten Kaderschmiede für junge Manager.

Dieser Text erscheint auch auf dem Debattenportal The European.

 Foto: Abir Anwar, Lizenz: CC BY 2.0