Der klassische Medienbetrieb könnte eine Riesenfreude mit Wikileaks haben. Doch lieber wird staatstragend gemahnt, um über die eigene Krise hinweg zu täuschen.
Seit ein paar Tagen haben wir Cablegate und alle reden wieder über Wikileaks. Das ließe sich eigentlich als tollen Zustand empfinden. Whistleblowing im großen Stil trägt vertrauliche Informationen in die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit diskutiert diese Informationen. Ein gesellschaftspolitisch wertvoller Zustand, man könnte auch Aufklärung dazu sagen.
Und man könnte sich ansehen, welche Anwendungen etwa der Guardian rund um die veröffentlichten Dokumente gebastelt hat und schlicht und einfach glücklich über die fruchtbare Verbindung sein, das die Whistleblowing-Plattform Wikileaks mit dem Journalismus eingehen kann.
Trotzdem ist die Diskussion über Cablegate in den vergangenen Tagen zu einer Grundsatzdiskussion über Wikileaks und das Internet an sich mutiert. Dürfen die das? Sollen die das? Oder gehört denen schlicht das Handwerk gelegt?
Die Gründe für dieses seltsame Aneinandervorbeireden – auch nachzusehen im gestrigen Club 2 zum Thema – sind vielschichtig. Am besten trifft es wohl die von Martin Blumenau geäußerte These, dass es sich hier vor allem um ein Versagen der Medien handelt. Sie lässt sich gut in Österreich nachprüfen, einem Land, das auf Informelles gebaut ist und dessen Mentalität seit Jahrzehnten zwischen „Schaun ma mal“ und „Des moch ma schon“ pendelt und damit Politik wie Medien lähmt. In Österreich kann so etwas wie Wikileaks natürlich nur auf Ablehung stoßen, weil Whistleblowing so ein System in seinen Grundfesten erschüttert. Und interessanterweise auch bei wirklich guten Journalisten wie Florian Klenk vom Falter, denen Transparenz und Aufklärung ein ernstes Anliegen ist.
Es wird in der Kritik an Wikileaks – und hier verlassen wir schon wieder die österreichische Sicht der Dinge – der fehlende Filter des Journalisten gefordert. Der Journalist, so heißt es, sei innerhalb dieses Prozesses quasi unersetzlich. Er allein ist es, der Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann, aufbereitet und zusammenfasst. Der Journalist, so heißt es damit auch, ist der einzige, der richtig mit solcher Information umgehen kann. Er ist der einzig legitimierte Aufdecker.
Das ist nicht nur die typische Selbstüberschätzung einer Branche, sondern ein fataler Denkfehler. Der beruht auf der durch die Geschichte eigentlich längst widerlegten Ansicht, dass Neues wieder weggeht, weil das Alte eh besser war. Dass Wikileaks wieder weg geht. Dass das Internet wieder weg geht. Dass die Fülle an Information wieder weg geht, die plötzlich allen und nicht mehr nur wenigen zur Verfügung steht. Dass die Leute aufhören, ihr Geschichten selbst zu erzählen und sie wieder in die Hände althergebrachter Medien legen. Dass Menschen wie „Private“ Bradley Manning vertrauliche Informationen auf eine mit „Lady Gaga“ beschriftete CD brennen und an Wikileaks weitergeben anstatt an, sagen wir mal, Bob Woodward und Carl Bernstein. Dass auf der Basis von Wikileaks eine Art kooperativer Crowdsourcing-Journalismus entstehen, der die New York Times und den Guardian von Konkurrenten zu Partnern macht, die sich gemeinsam in den Dienst ihrer Profession stellen.
Das alles geht nicht weg, auch wenn man versucht, es wegzudiskutieren, schlechtzureden oder unter der Frage zu begraben, on Julian Assange ein Vergewaltiger ist.
In Wahrheit hat sich ja nicht die Menge an spannenden Informationen da draußen geändert, sondern nur der Zugang dazu. Dieser Zugang – das zeigt Wikileaks – ist technisch relativ einfach herzustellen. Doch Technik ist nur ein Werkzeug. Sie zu nutzen erfordert eine Medienkompetenz, die Julian Assange sehr eindrucksvoll unter Beweis stellt (auch für Eigenmarkting, aber das ist eine andere Geschichte). Diese Medienkompetenz ist dem klassischen Medienbetrieb – die meisten löblichen Ausnahmen sollten oben im Text erwähnt sein – über die Jahre allerdings zusehends abhanden gekommen. Der moralisierende Umgang mit Wikileaks ist daher vor allem eines: ein weiteres Indiz für die tiefgreifende Strukturkrise der Medien.