Uninformierte Menschen, manche nennen sie auch Ungebildete, haben es nicht leicht. Sie werden zum Beispiel für viele Probleme verantwortlich gemacht. Sie wählen die falschen Parteien. Sie mögen Populisten. Sie fürchten sich vor Zuwanderern. Und als wäre das nicht alles schon genug der arroganten Zuschreibungen, werden sie auch noch als Modernisierungsverlierer abgekanzelt und im Privatfernsehen via Scripted Reality-Formaten zu Leitfiguren einer vermeintlich kaputten Gesellschaft erhoben. Schaurig schön, so ein Ungebildeter, nicht wahr?
Doch es steckt auch sehr viel Vorurteil in dieser Sicht der Dinge. Und wie eine nun im Magazin „Science“ publizierte Studie zeigt (hier und hier eine Zusammenfassung), könnte der Ungebildete und Uninformierte gar eine wichtige Funktion für den demokratisch gewonnenen Konsens haben. Die Untersuchung stammt aus Princeton. Forscher um Iain D. Couzin, einem Verhaltensbiologen, sind mit Experimenten an Fischen und mathematischen Modellen zur These gelangt, dass Ignoranz sehr hilfreich ist, wenn es etwa darum geht, extreme Randgruppen in Schach zu halten.
Was das mit Fischen zu tun hat? Fische bilden gerne Schwärme – und ähnlich wie menschliche Gesellschaften müssen sie manchmal wichtige Entscheidungen im Kollektiv treffen. Zum Beispiel um genug Futter zu finden.
Ungebildete Fische sorgen für bessere Entscheidungen
Die Fische der Spezies Notemigonus crysoleucas, gerne im Winnipegsee anzutreffen, stehen auf die Farbe Gelb, weil es für sie Nahrung signalisiert. Für das Experiment wurde die Mehrheit ihres Schwarms mit Futter allerdings darauf trainiert, dass es noch lohnender ist, in Richtung Blau zu schwimmen. Eine Minderheit hingegen wurde in ihrer natürlichen Annahme bestärkt, in Richtung Gelb zu schwimmen. Und wenn die Forscher beide Gruppen in einen Schwarm steckten, dominierte das stärkere Urbedürfnis der gelben Minderheit die Entscheidung.
So weit das erste Ergebnis. Richtig interessant wurde es für Couzin und seine Kollegen, als sie ungebildete Fische zur Gruppe hinzu fügten, die auf keine Farbe konditioniert waren. Der Schwarm traf dann plötzlich eine kluge Entscheidung. Er schwamm Richtung Blau.
Mit Hilfe mathematischer Modelle, die soziale Prozesse simulieren, kamen die Forscher dann vom Fisch zum Menschen – und zu einem ähnlichen Ergebnis: Gibt es nur eine große Mehrheit mit einer vagen Präferenz, und eine radikale Minderheit mit einer sehr starken, setzt sich meist die Minderheit durch. Erst wenn eine dritte Kraft – die neutrale, uniformierte Gruppe – dazu kommt, setzt sich die Mehrheit durch.
Der Modernisierungsverlierer gewinnt an Gewicht
So wird der Uninformierte und Ungebildete vom Modernisierungsverlierer zum relevanten Spieler in demokratischen Prozessen. Er kriegt endlich das Gewicht, das ihm zusteht.
Bleibt nur noch die Frage, was das in einem Jahr der Politisierung bedeuten kann? Einem Jahr der Wutbürgerei und Okkupisten? Einem Jahr der Facebook-Revolutionen im arabischen Raum? Einem Jahr, in dem das Magazin „Time“ den anonymen „Demonstranten“ (etwas ungenügend übersetzt für „The Protestor“) zur definierenden Persönlichkeit erklärt? Der sich – wie hier ausgeführt – sehr gut mit dem Person des Jahres aus 2006 zusammen denken lässt – dem „You“, uns allen, die wir Teil des partizipativen Social Web sind?
Derzeit stehen unsere Gesellschaften doch vor allem vor einem Problem: Auf der einen Seite manifestiert sich in einem großen Teil der Gesellschaft – nennen wir sie der Einfachheit halber die „99 Prozent“ – das Gefühl, dass etwas nicht stimmen kann an einem System, das Ungleichheiten schürt und so lange aus Nichts Geld erschafft, bis daraus eine globale Finanzkrise wächst. Auf der anderen – der Seite der radikalen Minderheit wird nicht über Alternativen nachgedacht, sondern weiterhin der Status Quo zementiert. Mit Schuldenschnitten, Rettungsschirmen und anderen abstrakten Konstrukten, die einen vor allem erahnen lassen, dass sie auf wackeligen Beinen stehen.
Sollte der anonyme Demonstrant zwischen Occupy und Wutbürgerei tatsächlich nicht nur eine zeitgeistige Erscheinung bleiben, sondern als Rollenmodell den Jahreswechsel überdauern, hat das mehr als reine Symbolwirkung. Er kann tatsächlich uninformierte und lahme Massen bewegen – und damit der radikalen Minderheit der Akteure an den globalen Finanzmärkten Paroli bieten. Schön, wenn zumindest in der Theorie rückblickend nicht alles für die Fisch’ gewesen ist, oder?
Dieser Artikel erscheint auch im Debattenportal The European.
Bild: U.S. Fish and Wildlife Service, Lizenz: Public Domain