Eine dicke, lesbische Sängerin kann einem ganz schön die Wahrnehmung vernebeln. Das ist vor allem im Zusammenhang mit Gossip ein Fehler. Das Trio um Beth Ditto spielt nämlich die zwingendste Tanzmusik dieser Tage.
Ich weiß, für die, die es wissen wollten, ist über das neue Album von Gossip – es heißt „Music for Men“ – eh schon alles gesagt. Es wurde erklärt, dass es nicht ganz an die Kraft der Vorgänger heran reicht, weil die Band aus Oregon nun bei einer großen Plattenfirma ist (als hätte das heutzutage tatsächlich noch Bedeutung, aber das ist eine andere Geschichte) und von einem großen Produzenten im Studio geleitet wurde (Rick Rubin). Es wurden in Texten gerne diverse Wortspiele mit den Adjektiven „dick“ und „fett“ angestellt (die Sängerin Beth Ditto ist es leider so deutlich, dass es jeder Depp erkennt, der aufrecht vor einer Tastatur sitzen kann). Es wurde ihre Transformation vom lesbischen Freak zum Darling der Modeszene erzählt, was sie auf diverse Fashion-Shows geführt hat, um diese mit Subversion zu schmücken (mein Beileid). Und es wurde – natürlich nicht überall, aber gerne – die Geschichte erzählt, dass es bei so einem plötzlichen Höhenflug nicht möglich ist, Klasse zu behalten. Pfui Gack, die haben sich verkauft, die Welt ist schlecht, wir sind blöd.
Das konnte mir alles egal sein, weil mit Gossip bisher egal waren. Lose wahrgenommen, mit ein paar Vorurteilen abgetan, einfach wurscht. So kam ich in die glückliche Lage, mir „Music For Men“ ganz unvoreingenommen anzuhören. Es war mein erstes bewusstes Gossip-Album – und ich finde es nach einer guten Woche auf dem iPod noch immer großartig.
Rick Rubin hat ganze Arbeit geleistet. Er hat den Funk der Band erkannt und er hat sie zu wirklich guten Melodien getrieben. Und so schaffen Gossip auf „Music For Men“ das, was eine bessere Popband ausmacht. Sie lassen einen in ihren Songs spüren, dass hier etwas nach vorne drängt, das auf die ganz große Bühne muss, und zwar jetzt gleich.
„Music For Men“ ist ein Album, das eine großartige Liveband erahnen lässt. Eines dieser schlafenden Monster, das mit seinem Publikum aufwacht, um es ordentlich platt zu walzen. So wie die Queens Of The Stone Age oder die Foo Fighters, die einen drei Tage Festival im Schnürlregen auf einen Schlag vergessen lassen können.
Und siehe da, ein Blick auf diverse Youtube-Clips bestätigt diese Annahme. Zum Beispiel „Standing Way Out Of Control“, ihr kleiner Hit von 2006, dargeboten auf einem Festival in England (der Clip ist am Ende dieses Textes eingebettet) – der funktioniert sogar auf 400 mal irgendwas Pixel und bei miesem Sound. Da ist tatsächlich jenes Monster am Werk, das es viel zu selten gibt. Ebenso bei der aktuellen Single „Heavy Cross“ in einer Liveversion aus der Talkshow von Jonathan Ross (auch unten eingebettet): Kein richtiges Publikum, aber trotzdem spielt das Trio (hier um einen Bassisten zum Quartett angereichert) als ginge es ums Leben.
Nun habe ich mir in der vergangenen Woche auch das bisherige Werk von Gossip zu Gemüte geführt. Man will schließlich wissen, was früher so viel besser war. Natürlich ist es nichts. Gossip waren früher eine funky Band mit einer Naturgewalt am Mikrofon, und Gossip sind es heute auch noch – bloß mit dem Vorteil, dass sie besser, ausgetüftelter und klarer klingen. Wie richtig großer Pop, der für ein paar Minuten alles gut werden lässt. So sei all jenen gesagt, die es nicht schon immer gewusst haben: Fürs Späteinsteigen ist „Music For Men“ besser geeignet als alles andere.
Gossip mit „Standing Way Out Of Control“ auf einem Festival in England.
Gossip mit „Heavy Cross“ bei Jonathan Ross.