Die These, auf die der Autor Walter Wüllenweber seine Geschichte stützt, ist schnell referiert: Pornografie wie wir sie heute kennen – also per Internet jederzeit verfügbar, anonym zu konsumieren, für jeden Geschmack was dabei – führt zu sexueller Verwahrlosung bei jungen Menschen, Kindern sogar. Um dies zu stützen, werden viele bedrückende Schicksale von Kindern und Jugendlichen aus der Unterschicht erzählt.
Sie tun weh. Sie lassen einen an der Welt verzweifeln. Sie wirken in ihrer Menge irgendwie aufgesetzt und nicht repräsentativ. Und dann sagt ein Wissenschaftler namens Jakob Pastötter, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung ist: „Pornografie wird zur Leitkultur der Unterschicht.“ Soll heißen: Sex hat dort eine nie da gewesene Wichtigkeit und Selbstdefinitionskraft im Leben bekommen. Ist er ausdauernd, mehrmals täglich und riskant, hat man was geschafft im Leben. Man hat zwar noch immer keine schönere Wohnung und keinen besseren Job. Aber man kann wenigstens was, nämlich Sex wie im Porno.
Warum das so ist? Es fehle der Unterschicht – und vor allem ihren Kindern – am Umgang mit der Medienkompetenz, insbesondere beim Internet. Also: Wer seinen Kinder schon nicht lehrt wie man fernsieht, zieht gleichzeitig Kinder groß, die Pornovideos im Web als Realität nehmen. Die fiktionalen Sex genausowenig als solchen erkennen wie sie – die Überleitung ist für den Stern-Autor dann doch zu naheliegend, um sie auszulassen – fiktionale Gewalt in Videospielen kritiklos in ihr reales Handeln integrieren. So weit, so alt und langweilig also der Vorwurf.
Und so weit, so alt auch der von den Protagonisten der Stern-Story vorgeschlagene Lösungsansatz: Verbietet den Dreck! Und verbietet alles, was direkt und indirekt davon handelt, gleich mit. Die dämlichen Rap-CDs von Bushido oder Sido. Die Technik, die uns alles nach Hause bringt. Alles.
Was die Geschichte – wie auch die meisten anderen zum Thema – dabei vergisst: Porno und auch der Umgang damit ist nicht der Keim, sondern höchstens ein Symptom fürs Problem. Die Verwahrlosung findet wie auch schlüssig beschrieben woanders statt. Allein daheim, vor dem Fernseher statt im Gespräch, unerzogen von Eltern, die keine Ahnung haben, was sie mit ihren Kindern anfangen sollen, weil sie schon keine Ahnung haben, was sie mit sich selbst anfangen sollen.
Wer wie in dieser Stern-Geschichte all diese Erkenntnisse referiert, aber dann nur auf die rettende Idee kommt, eine Kulturtechnik wie das Internet zu verteufeln, weil dort selten Liebesgedichte getauscht, sondern oft Pornos – der sollte es lieber bleiben lassen. Denn Pornografie, Sex und das Netz gehören zusammen. Immer schon. Und sie haben viel füreinander geleistet, ob wir das wollen oder nicht. Daher zwei Klarstellungen:
Erstens: Dass das WorldWideWeb heute so allumfassend da steht, wie es da steht, hat viel mit Porno zu tun. Denn wenn alle von Ebay, Amazon und Google als Heilsbringer des Web 2.0 schwärmen, weil endlich jemand im Netz Geld verdient, vergessen sie gerne, dass die Porno-Industrie das Netz schon lange vorher als ökonomisch erfolgreiches Verteilersystem für sich entdeckt hat. Überhaupt ist Porno gerne Motor für technische Innovationen.
Nur ein Beispiel: Als Ende der 70er Jahre drei Formate um die Vorherrschaft am neuen Markt der Heim-Videos kämpften, setzte sich das mangelhafte VHS-Format schließlich gegen Sonys Betamax und Grundigs Video 2000 durch. Weil die Porno-Industrie geschlossen auf VHS gesetzt hatte – und jeder, der zum Onanieren nicht mehr in ein Pornokino gehen wollte, einen VHS-Recorder anschaffen musste. Diese technische Revolution, die Porno erstmals in bewegten Bildern nach Hause brachte, führte natürlich auch zu einer Revolution der Ästhetik, weil die Nachfrage stieg und billiger produziert werden konnte als fürs Kino (schön nacherzählt übrigens im Film „Boogie Nights“ von Paul Thomas Anderson): Weg von der Rahmenhandlung, hin zur bloßen Aneinanderreihung der Kopulationen. Und wenn zeitgeistige Video-Communties wie Youtube.com als hip gelten dürfen, darf schon auch erkannt werden, dass das Amateurvideo vom heimischen Doppelbett samt Geschlechtsakt schon seit Jahren zum Standard-Repertoire durchschnittlicher Porno-Seiten gehört.
Zweitens: Porno und Sexualität im Web als gemeinhin böse abzutun, ist dumm. Denn abseits der bloßen Rammel-Sites hat Sexualität im Netz als Thema durchaus auch innovative und spannende Plätze für sich finden können, die ihr in klassischen Medien verwehrt geblieben wären. Und auch wenn ich kein Spezialist in dieser Sache bin, empfehle ich hiermit zwei Seiten. Die eine, Suicidegirls.com, widmet sich schon seit Jahren erfolgreich dem Versuch eine Art gute – und community-basierte – Pornografie herzustellen. Und die andere, nerve.com, deutet Sex (und auch Porno) sehr schön und ohne große Grätsche regelmäßig als immanenten Teil der Popkultur. Weil wir schon dabei sind: Hier eine lesenswerte Geschichte zum Thema Sex neu, die dem Stern-Ansatz diametral entgegen steht – geschrieben von einer Frau. Die Stern-Story stammt übrigens von einem Mann.