Beginnen wir mit ein wenig Soziologie. Es war in den 1960er-Jahren, als der an der University Of Chicago lehrende Politikwissenschaftler Morton Grodzins die demografischen Bewegungen innerhalb so genannter „intetegrating neighbourhoods“ in amerikanischen Städten untersuchte – also von Gegenden, in denen aforamerikanische und weiße Familien nebeneinander leben. Er bemerkte, dass die meisten weißen Familien gerne in der Gegend bleiben, so lange die schwarzen eine Minderheit sind. Wenn sich diese Verhältnisse allerdings ändern, geht das so lange weitgehend unbemerkt, bis eine afroamerikanische Familie zu viel in die Gegend zieht. Dann setzt plötzlich eine weiße Massenflucht ein. Diesen Moment vor dem so genannten „white flight“ hat Grodzins „tipping point“ genannt.
Malcolm Gladwell, ein amerikanischer Journalist und Autor, hat den seit Grodzins in verschiedensten Disziplinen immer wieder angewandten „tipping point“ vor ein paar Jahren zum Leitmotiv eines Bestsellers erkoren (auf Deutsch: Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können – übrigen eine dieser guten Ideen, die man besser selber gehabt hätte, aber das ist eine andere Geschichte.) Gladwell wendet ihn darin auf alle Bereiche des Lebens an. Es ist müßig, seine Anekdoten hier nachzuerzählen, nur eines ist auffällig: das größte Problem des „tipping point“. Man bemerkt immer erst nachher, wenn er eingetreten ist. Und dann ist es meistens zu spät, um sich für die neuen Verhältnisse danach zu rüsten.
Warum ich mich darüber so lange auslasse, hat mit einem Text zu tun, über den ich vor einer guten Woche gestolpert bin. Darin schreibt der Medienberater und Journalist Robin Meyer-Lucht über den maroden Zustand der Zeitungsbranche, die überall mit sinkenden Reichweiten und Auflagen, immer greiseren Lesern und spärlicher werdenden Inseraten zu kämpfen hat, weil nachwachsende Generationen offensichtlich keine Lust haben, Geld für bedrucktes Papier auszugeben. Einen französischen Aufsatz zitierend kommt Meyer-Lucht zum Schluss: „Die Presse hat im Kampf mit dem Internet ihren „tipping point“ erreicht und droht ins Bodenlose zu fallen.“ Die Großen im Internet – von Google über Freemail-Anbieter bis zu sozialen Portalen – nehmen der Presse nicht nur die Inserate weg, sie drücken auch noch die Preise für die Werbebanner auf den Online-Versionen der Zeitungen und Zeitschriften.
Diese Sicht der Dinge bedeutet nichts Gutes. Noch weniger Jobs, noch höhnischere Honorare für Autoren und Fotografen, noch schlechtere Zeitungen, als die meisten eh schon sind. Dann kommen noch Statusberichte aus Amerika wie dieser und darin die Erkenntnis, dass außer der Weblog-Zeitung huffingtonpost.com kaum einer mit so etwas Ähnlichem wie Journalismus online kommerzielle Erfolge erzielt. Oder die Veröffentlichung der Mediaanalyse 2007 für Österreich, die bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend Verluste bei den Lesern ausweist, von den Betroffenen aber trotzdem zu Erfolgsmeldungen umgedeutet wird.
So entsteht dann wirklich leicht der Eindruck, die Entscheidungsträger der großen Verlage stecken die Köpfe in den Sand und warten vorsichtshalber mit ihren Reaktionen, bis die bisherigen Strukturen hinweg gefegt sind – der „tipping point“, Sie erinnern sich sicher, macht sowieso alles anders, als man denkt. Und nebenbei bringt er einem auch eine kleine Identitätskrise ins Haus. Wie soll man unter diesen Umständen noch Zeitungen machen? Wie soll online so etwas wie Journalismus passieren, der Geld kostet? Und überhaupt: Was ist schon heute die Lösung für die Misere von morgen?
Vielleicht hat irgendjemand eine Idee und wäre so freundlich, es mir mitzuteilen. Es wäre eine große Hilfe.
28. März 2008