Foto: Wikimedia Commons, Public Domain.

Wir schreiben das Jahr 1830. Die Pariser Bevölkerung erhebt sich zum Juliaufstand. Der Maler Eugène Delacroix gibt ihr eine Führerin, die römische Libertas. "La liberté guidant le peuple" heißt das Bild – die Freiheit führt das Volk. Es gefiel übrigens auch der Band Coldplay, die es 2008 als Cover für ihr Album "Viva la Vida or Death and All His Friends" verwendet hat.

Wenn es um Reglementierung ihres Internet-Lifestyles geht, fordern Nerds gerne Freiheit ein. Nur welche eigentlich?

Am 27. November erschien der FAZ ein Artikel von Oliver Jungen mit dem Titel „Der Staat erobert das Internet“ zurück. Markus Beckedahl stellte danach folgendes Zitat daraus auf Netzpolitik.org zur Diskussion.

Das Internet ist die bedeutendste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts: eine friedliche Revolution im Geiste der Dezentralisierung, die größte Stimulation, die der Weltgeist je erfahren hat. Die weltweite Vernetzung des Denkens könnte den ersten Schritt auf dem Weg in eine postnationale Weltordnung markieren. Und doch konnte man hierzulande – nach den Invektiven staatlicher Stellen und mächtiger Lobby-Verbände – letzthin den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen Tummelplatz von Räubern, Terroristen und Triebtätern. Nicht nur die Netzgemeinde argwöhnt, dass es bei der rhetorischen Degradierung des Internets zum digitalen Bahnhofsviertel darum ging, den staatlichen Zugriff auf das System zu erleichtern.

Das führte dann zu diesem Kommentar, den ich mir hiermit per Screenshot ausborge:

Foto: Screenshot von netzpolitik.org

Da ist er also gleich zur Stelle, der Nerd, der Digital Native. Und es geht ihm sinngemäß – es ließen sich viele Zitate zum Thema finden – wie immer um die Freiheit des Internet, die er erhalten möchte. Dieser Wunsch ist wichtig, vor allem in Zeiten, in denen der Digital Native endlich in den gesellschaftlichen Mainstream vorgedrungen ist.

Doch leider verbirgt sich hinter dem Freiheitsbegriff, den Netz-Aktivisten gerne propagieren, ein simpler Denkfehler. Das Internet ist weder frei, noch unfrei. Es ist einfach da, eine Infrastruktur, die sich üblicherweise morgen innovativer nutzen lässt als noch heute.

Für diese Innovationen sorgt nicht das Internet an sich, sondern die Masse der Individuen, die Crowd, die es Sekunde um Sekunde mit Inhalten füllt, neue Anwendungen ersinnt und diese nutzt. Jede Anwendung schafft Strukturen und Hierarchien (also Unfreiheiten), und ab da wird’s kompliziert. Kommentator Stefans „Wir haben das Internet gebaut“-Freiheitsbegriff, den er und viele seiner Mit-Nerds berechtigterweise in Gefahr sehen (siehe etwa nur die Diskussion um Netzsperren in Deutchland), ist nicht die des Internet, wie sie gerne sagen, sondern ihre persönliche. Sie wollen weiterhin im Netz so leben wie sie es bisher getan haben. Wenig reglementiert, manchmal außerhalb gängiger Rechtsbegriffe (etwa illegale Musikdownloads), also frei im Sinne von: Ich lasse mir meine Mausklicks nicht verbieten.

Das ist verständlich, aber mit der Freiheit des Netzes hat das nichts zu tun. Es mag zwar noch immer keiner physischen Organisation gehören, doch über die Jahre ist es längst im Mainstream angelangt, dem gesellschaftlichen wie dem ökonomischen. Nicht zuletzt ist daher die Diskussion ums vermeintlich böse Google gegen die vermeintlich armen Verlage nur eine Diskussion ums Geld. Der Journalismus als Wert, der durchs Web in Gefahr gerät, wird dabei nur alibihalber vorgeschoben.

Der Mainstream kann nur bespielt werden, wenn sich Machtstrukturen bilden, die dem oben definierten persönlichen Freiheitsbegriff entgegen stehen. Das Web ist heute stark reglementiert, meistens von Monopolisten wie Google, die unsere Daten sammeln und uns anhand dieser Daten das Leben leichter machen, wenn wir das wollen. Und weil wir sehr bequem sind, wollen wir das. Der prototypische Nerd will es sogar ganz besonders.

Das Reglementieren sorgt zwangsläufig für Hierarchien und Bürokratie. Diese zwei Dinge sind es, die den Digital Native, der sich in seiner Freiheit eingeschränkt fühlt, besonders stören. Am besten lässt sich das am Beispiel der Wikipedia ausführen, das eindrucksvollste Stück Crowdsourcing, das wir kennen, und ein wunderbares Beweisstück für die kollektive Schlagkraft der Nerds.

Bei der deutschen Wikipedia tobt schon seit Wochen ein erbitterter Streit um die so genannten Relevanzkriterien, die darüber entscheiden, welcher Begriff aufgenommen oder gar wieder gelöscht wird. Beim amerikanischen Mutterschiff mokiert sich die Autorengemeinde über die „deletionists“ – also jene, die in der Wikipedia-Hierarchie aufgestiegen sind, und in der Crowd entscheiden, was relevant ist und was nicht – und dann dementsprechend handeln. Siehe dazu diesen ausführlichen Artikel im Wall Street Journal.

Die über die Jahre gewachsene (und notwendige) Hierarchie stößt nun den Wikipedia-Autoren so auf, dass sie in großer Zahl ihre Arbeit niederlegen. 49000 Autoren haben in den ersten drei Monaten des Jahres 2009 einfach aufgehört mitzumachen. Im Jahr 2008 waren es bloß 4900. Nun mag das vielleicht daran liegen, dass ihnen schön langsam die eintragenswürdigen Begriffe ausgehen, aber allein das Studium der Kommentare zum oben verlinkten Wall Street Journal-Artikel lässt einen anderen Schluss zu. Es scheint, den hier tätigen Digital Natives/Nerds stößt am meisten auf, dass die Realität ihren über die Jahre tradierten Lifestyle überschattet (alle dürfen alles). Und um den zu bewahren, wird dann mit einem allgemeinen, nebulosen Freiheitsbegriff argumentiert, der aber eigentlich nur das persönliche Befinden meint.

Besonders perfid an dieser Diskussion ist ohnehin, dass sie nicht nur heute, sondern auch in Zukunft von einer Minderheit geführt wird. Es ist schön, dass der Digital Native nun auch im Mainstream-Diskurs wahrnehmbar mitredet. Aber ich halte es für eine Illusion, dass dieser Lifestyle einer Minderheit der Mensch von morgen gebiert. Der Nerd, den alle meinen, die von ihm reden, ist ein humanistisch gebildetes Wesen, intellektuell und selbstbestimmt surft er herum, und was ihm nicht gefällt, prangert er aktiv an, um es zu ändern. Diesem Eindruck kann man sich ja tatsächlich nicht erwehren, wenn man bei Twitter den richtigen Leuten folgt und dann einmal das Falsche sagt. Die Zurechtweisung – oder zumindest die Diskussion – folgt in der Sekunde.

Das ist zwar gut und neu, aber es ist eine Illusion zu glauben, dass der Mensch von morgen recht viel klüger sein wird als der von heute. Er wird sich weiterhin lieber zerstreuen als nachdenken. Er wird weiterhin lieber passiv als aktiv sein. Das Netz ist dann zwar das liebste Mittel zum Zweck dafür, aber mehr nicht. Und vor allem: Die Freiheit – egal, ob die des Netzes, oder die des Individuums – wird ihm so wurscht sein, wie sie dem Gros der Menschheit schon heute ist.