Das Prinzip der stets wachsamen Mitleser haben andere Web-Dienste etabliert. Mit Wikileaks gelangt es endlich in Kreise, die bisher darüber erhaben schienen.
Ja, Julian Assange beherrscht die Kunst der politischen Pressearbeit perfekt. Er und sein Dienst Wikileaks sind das Thema des ausklingenden Jahres. Und die aktuellen Geschehnisse darum haben das Zeug zum Live-Thriller, der zwar die politische Dimension mancher geleakter Dokumente in den Hintergrund drängt, aber gleichzeitig eine unbezahlbar gute Story darstellt, die obendrein ihre Spannung aus genretypischen Gegensatzpaaren bezieht. Hacker-Ethik gegen Herrschaftswissen. Unten gegen oben. Jung gegen alt. Gut gegen böse. Und ebenfalls für Sympathisanten beider Parteien zutreffend: Wir gegen sie.
Wenn sich Diskussionen auf solche Gegensatzpaare zurecht stutzen lassen, gehen damit meist zwei Probleme einher: Es treffen vorgefertigte Meinungen aufeinander. Und jede Äußerung des anderen wirkt nur mehr wie eine Bestätigung des klischeehaften Bildes, das man ohnehin schon vom Gegner hatte.
Doch diese starren Fronten sind trügerisch. Sie verdecken die Zeitenwende, die dahinter stecken könnte. In Wahrheit scheint hier nämlich eine längst in der digitalen Gesellschaft angelegte Entwicklung ihren tipping point überschritten zu haben, also jenen Punkt, an dem eine schleichende Änderung der Verhältnisse plötzlich zur Revolution wird.
Und Wikileaks könnte sich dereinst – ein Tipping Point ist leider immer erst in der Rückschau auszumachen – als solcher erwiesen haben. Tradierte Modelle der Medienproduktion und -rezeption etwa lassen sich nicht auf Wikileaks anwenden, was in der Branche für gehörige Nervosität und Ablehnung sorgt. Und das gilt auch für Diplomatie und bilaterale Beziehungen, deren auf informellem Gemauschel basierende Netze plötzlich sichtbar werden. Das wird zwar gerne als „Tratsch“ abgetan, doch dabei wird vergessen, dass Tratsch und Smalltalk auch die Basis schwerwiegender Entscheidungen bilden.
All das Unbehagen, mit dem sich sich nun Politiker, Journalisten und andere der von Wikileaks gelebten Form der Transparenz stellen, lässt außer Acht, dass der Nährboden für diese recht komplizierte Form der Transparenz schon längst gelegt ist. Mit Google, mit Facebook, mit all den anderen Diensten, die viele von uns täglich nutzen.
Man mag nun Google oder Facebook stellvertretend vorwerfen, dass sie unsere Privatsphäre aushöhlen, doch solange das Gros der User bereitwillig dabei mit macht, kriegt dieser Vorwurf eine recht pikante Note. Und gleichzeitig – vielen Dank an Michalis Pantelouris für diesen Gedanken – stellen sich viele längst einer Realität, in der man besser überlegt, welche Botschaften man auf Facebook oder sonstwo sendet, weil sie von stets wachsamen Mitlesern als Spiegel der Persönlichkeit gedeutet werden. Privatheit wird in diesem Zusammenhang völlig anders definiert. Sie ist eine bewusste Entscheidung, die sich nur mit Bedacht und kluger Strategie nachhaltig treffen lässt. Sie ist keine Systemeinstellung. Und es gibt auch keine staatliche Garantie darauf, weil Privatheit in der Geschichte ohnehin immer nur eine Frage des Zeitgeistes war.
Julian Assange würde diese permanente Selbstreflexion vor dem Spiegel der Öffentlichkeit vielleicht Transparenz nennen, denn nichts anderes steht hinter dem Transparenz-Verständnis von Wikileaks. Es legitimiert sich dadurch, dass es Informationen veröffentlicht, die an Orten für Selbstreflexion sorgen, die bisher darüber erhaben schienen. Klug miteinander verknüpft erzählen sie eine Geschichte, die den Absendern der Informationen vielleicht nicht gefällt.
So gesehen ist die Revolution von Wikileaks nicht, dass die Plattform bisher unzugängliche Informationen (wobei: Hatten nicht zwei Millionen Menschen ohnehin theoretisch Zugriff auf die Cablegate-Depeschen?) ans Licht holt, sondern dass es den vorsichtigen und bedachten Umgang mit einer stets wachsamen Öffentlichkeit in jenen Kreise etabliert, die schwerwiegende und weitreichende Entscheidungen treffen. Es soll uns nichts Schlechteres passieren.
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