Anstatt was zu besprechen, das mit dem echten, richtigen und guten Leben zu tun hat, hat es sich wieder einmal anders ergeben. Wir haben über Facebook geredet. Aus Sicht Mark Zuckerbergs haben wir es sogar heimlich getan. Wir sind in einem Wirtshaus mit abgewetztem Mobiliar gesessen, kein Wireless LAN in der Nähe, die Smartphones in unseren Jackentaschen.

Und so tauchte in diesem Gespräch eine in Tagen wie diesen beinahe schon existenzielle Frage auf: Was ist das eigentlich, diese Privatsphäre, die uns angeblich geraubt wird? Und wie ging noch einmal der Satz, den jetzt alle neunmalklugen Mahner gerne zitieren? Bei Facebook bist du nicht Kunde, sondern das Produkt. Was ja auch heißen kann: Steig aus, wenn du kannst, oder schmier dir deine Illusion von der Privatsphäre in die Haare.

Er hat „Penis“ gesagt!

Wer eine profunde Analyse des Begriffs Privatsphäre sucht, der ist im neuen Buch des amerikanischen Internet-Erklärers Jeff Jarvis gut aufgehoben. Es trägt den Titel „Public Parts“ – ein Wortspiel mit dem Begriff „Private Parts“, der jene Körperteile beschreibt, deren Sichtbarkeit in den USA Geldstrafen nach sich ziehen kann. Jarvis darf sich dieses Wortspiel erlauben, denn als er Prostatakrebs hatte, machte er ihn öffentlich, bloggte darüber und gab damit automatisch zu, einen Penis zu haben. Jarvis schmort trotzdem noch nicht in der Hölle, hat aber ein entspannteres Verhältnis zum Thema Privatsphäre als viele Mitteleuropäer. Mitteleuropäer erfreuen sich allerdings auch daran, wenn ihr Haus in Google Street View nur als Klotz aus groben Pixeln zu sehen ist. Und über solche Leute muss Jeff Jarvis wahrscheinlich schmunzeln.

Doch Jarvis will auch wissen, warum er schmunzelt, und hat sich auf die Suche nach der grundlegenden Frage gemacht, die zwischen Wirtshaus und Podiumsdiskussion schon oft gestellt worden ist: Was ist Privatsphäre eigentlich? Wer definiert sie? Wer macht die Regeln, um sie zu schützen?

Viele Seiten lang müht sich Jarvis dafür durch Richard Sennett, Jürgen Habermas und andere Autoren. Am Ende fühlt er sich von allen im Stich gelassen. Privatsphäre, so seine Conclusio, lässt sich nicht schlüssig definieren. Sie ist ein ein Luxusgut, eine Erfindung des Bürgertums. Sie wird von der technologischen Entwicklung ständig neu herausgefordert. Und egal, ob Telegramm, Telefon oder Reality TV – mit ein bisschen Reflexion hat die Menschheit noch jede neue Form der Kommunikation und Öffentlichkeit ausgehalten.

Public by default

Sicher braucht es klare Regeln, wie Unternehmen mit unseren Daten umgehen. Doch so lange keine Klarheit darüber herrscht, welche Aspekte unserer Privatsphäre so schützenswert sind, dass es dafür neue Gesetze braucht, habe ich lieber ein Tool wie Facebook, das die Entscheidung mir überlässt. „Public by Default“ hat Sascha Lobo diesen Schwebezustand kürzlich genannt, und das hat was für sich: Bisher war alles privat, was nicht explizit öffentlich war. Im Social Web wird nun alles öffentlich, was nicht explizit als privat gekennzeichnet ist. Es handle sich dabei nicht um das Ende der Privatsphäre, so Lobo, sondern um eine Neudefinition, die dem sozialen Sog der digitalen Vernetzung folgt.

Wie sich zeigt, können Millionen Menschen gut damit leben. Wer nun versucht, deren Privatsphäre durch regulierende Eingriffe zu schützen – die dann wohl in der Nähe der Exekutive zu suchen sind –, sorgt höchstens dafür, dass sie sich überwacht fühlen. Oder anders formuliert: in ihrer Privatsphäre gestört.

Bei der Lektüre von „Public Parts“ stößt man übrigens auch auf einen Auszug aus einem Essay von Douglas Adams aus dem Jahr 1999 mit dem schönen Titel „How to Stop Worrying and Learn to Love the Internet“. Der geht sinngemäß so:

Alles, was es schon gibt, wenn du geboren wirst, ist normal.

Alles, was vor deinem 30. Geburtstag erfunden wird, ist unglaublich neu und aufregend.

Alles, was danach erfunden wird, ist wider die Natur und der Anfang vom Ende der Zivilisation. Allerdings nur zehn Jahre lang, denn dann spätestens dann merkst du, dass die Welt noch immer steht.

Ich finde, das ist eine Erklärung, mit der man auch im Wirtshaus einig werden könnte.

Dieser Artikel erscheint auch im Debattenportal The European.